OLG München, Beschl. v. 18.10.2023 – 2 UF 613/23 e
I. Der Fall
Mit Beschl. v. 23.5.2023 hat das Amtsgericht Starnberg den Antragsgegner verpflichtet, ab 05/2023 gem. § 1615l BGB Betreuungsunterhalt in Höhe von 431,00 EUR monatlich sowie rückständigen Betreuungsunterhalt in Höhe von insgesamt 22.701,68 EUR nebst Zinsen an die Antragstellerin zu bezahlen. Im Übrigen wurde der Antrag der Antragstellerin vom 17.4.2023 zurückgewiesen. Die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses wurde nicht angeordnet, ohne dass der Beschluss eine Begründung hierzu erhält.
Gegen den Beschluss hat die Antragstellerin mit Schriftsatz vom 25.5.2023 Beschwerde eingelegt. In ihrer Beschwerdebegründung vom 23.8.2023 beantragt sie, im Rahmen einer Vorabentscheidung die sofortige Wirksamkeit des Beschlusses gem. § 120 Abs. 1 FamFG i.V.m. § 718 Abs. 1 ZPO anzuordnen. Gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG solle das Gericht die sofortige Wirksamkeit anordnen, soweit die Endentscheidung eine Verpflichtung zur Leistung von Unterhalt enthält. Das habe das Amtsgericht ohne Begründung unterlassen.
Mit Schriftsatz vom 16.10.2023 wendet sich der Antragsgegner gegen die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des angefochtenen Beschlusses durch das Beschwerdegericht. Die Antragstellerin habe die Möglichkeit gehabt, innerhalb von zwei Wochen die Ergänzung der Endentscheidung zu beantragen. Die unterbliebene Entscheidung könne vom Beschwerdegericht nicht nachgeholt werden.
Weiterlesen: Sofortige Wirksamkeit der Verpflichtung zum Unterhalt in der BeschwerdeinstanzII. Die Entscheidung
Das Oberlandesgericht München geht davon aus, dass es als Beschwerdegericht die sofortige Wirksamkeit der Verpflichtung zur Leistung von laufendem Unterhalt anordnen kann und hält den diesbezüglichen Antrag für begründet. Im Hinblick auf rückständigen Unterhalt geht es jedoch von der Unbegründetheit des Antrags aus. Zur Begründung führt es folgendes aus:
Der Antrag auf Anordnung der sofortigen Wirksamkeit des von der Antragstellerin angefochtenen Beschlusses des Amtsgerichts Starnberg vom 23.5.2023 ist im Hinblick auf Ziffer 1 des Beschlusses zum laufenden Betreuungsunterhalt zulässig und begründet. Im Hinblick auf den rückständigen Unterhalt ist er unbegründet.
1. Das Amtsgericht hat die sofortige Wirksamkeit des angefochtenen Beschlusses hinsichtlich der Unterhaltsverpflichtung nicht angeordnet und dies auch nicht etwa bewusst unterlassen. Das ergibt sich daraus, dass § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG eine Soll-Vorschrift ist, so dass die Abweichung hiervon besonderer Begründung bedarf. Es fehlt aber jede Begründung des Amtsgerichts zu dieser Frage. Es ist umstritten, ob eine in erster Instanz versehentlich unterbliebene Entscheidung nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG durch das Beschwerdegericht nachgeholt werden kann.
2. Die inzwischen wohl herrschende Meinung in der Literatur und Rechtsprechung ist der Auffassung, dass die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit für die Unterhaltsverpflichtung in der Beschwerdeinstanz nachgeholt werden kann. Nach überwiegender Auffassung stützt sich das auf § 120 Abs. 1 i.V.m. § 718 ZPO. Das ergibt sich aus folgenden Erwägungen:
Nach Auffassung des Gesetzgebers sollen die Regelungen der §§ 116 Abs. 3, 120 Abs. 2 FamFG die differenzierte Konstruktion der vorläufigen Vollstreckbarkeit in der ZPO ersetzen. Die Vorschriften des § 120 Abs. 2 S. 1 und 3 FamFG sind denen des § 62 Abs. 1 Satz 1 und 3 ArbGG nachgebildet; das gilt der Sache nach auch für die jeweiligen Sätze. Der Gesetzgeber hat ausdrücklich gegen die Initiative des Bundesrates darauf verzichtet, in Familienstreitsachen die ZPO-Regelungen uneingeschränkt zu übernehmen. Nach § 120 Abs. 2 Satz 1 FamFG sind Endentscheidungen des Amtsgerichts mit dem Wirksamwerden vollstreckbar. Nach § 116 Abs. 3 Satz 1 FamFG werden Entscheidung in Familienstreitsachen zwar erst mit Rechtskraft wirksam; jedoch kann das Gericht die sofortige Wirksamkeit anordnen (§ 116 Abs. 3 Satz 2 FamFG); bei Verpflichtungen zur Unterhaltszahlung soll es dies tun (§ 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG). Diese speziellen Regelungen gehen für Familienstreitsachen der allgemeinen Ermächtigung des Beschwerdegerichts in § 64 Abs. 3 FamFG zum Erlass einstweiliger Anordnungen vor. Bei der Entscheidung gemäß § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG hat das Gericht nach pflichtgemäßem Ermessen die beiderseitigen Interessen zu. Ist die sofortige Wirksamkeit angeordnet, kann der Verpflichtete nach § 120 Abs. 2 Satz 2 FamFG in erster Instanz, nach § 120 Abs. 2 Satz 3 FamFG in der Beschwerdeinstanz glaubhaft machen, dass die Vollstreckung ihm einen nicht zu ersetzenden Nachteil bringen würde. In dem Falle kann das Gericht die Vollstreckung einstellen oder beschränken. Die Bezugnahme auf „dieselben Voraussetzungen“ in § 120 Abs. 2 Satz 3 FamFG bezieht sich entgegen Thomas/Putzo-Hüßtege a.a.O. nicht auf die Voraussetzungen der §§ 719 Abs. 1, 707 Abs. 1 ZPO, sondern auf die des § 120 Abs. 2 Satz 2 FamFG. Denn Voraussetzungen der Entscheidung finden sich zuvor nur in Satz 2; im Hinblick auf die §§ 719 Abs. 1, 707 Abs. 1 ZPO ist in Satz 3 nicht von deren Voraussetzungen die Rede, sondern nur von den dort genannten Fällen. Das stimmt überein damit, dass der Gesetzgeber die Regeln über die vorläufige Vollstreckbarkeit ersetzen wollte (BT-Drucks 16/6308 S. 224 und S. 412 gegen S. 378). Gleichwohl hat der Gesetzgeber in § 120 Abs. 1 FamFG angeordnet, dass die Vorschriften der ZPO über die Vollstreckung entsprechend gelten. Deswegen kann § 718 ZPO für das Nachholen der Anordnung der sofortigen Wirksamkeit nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG durch das Beschwerdegericht herangezogen werden. In der Gesetzesbegründung wird zwar ausdrücklich darauf hingewiesen, dass wie zu dem Vorbild des § 62 ArbGG die Vorschriften der §§ 708 bis 713 ZPO nicht und die Vorschriften der §§ 714 bis 720a ZPO nur eingeschränkt zur Anwendung kommen sollen. Der Umstand, dass in § 718 ZPO die Ermessensentscheidung des § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG nicht vorgesehen ist, begründet angesichts der nach dem Gesetz in § 120 Abs. 1 FamFG vorgesehenen „entsprechenden“ Anwendung keine grundsätzlichen Bedenken gegen eine Entscheidung des Beschwerdegerichts. Zuzugeben ist dem OLG Karlsruhe, dass sich der Gesetzgeber ersichtlich nicht mit der Problematik befasst hat, dass das Familiengericht übersehen könnte, eine Entscheidung nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG entgegen der gesetzlichen Vorgabe zu treffen. Dabei kann grundsätzlich auf die Möglichkeit nach §§ 113 Abs. 1 FamFG, § 321 ZPO verwiesen werden, wonach eine nachträgliche Entscheidung über einen übergangenen Entscheidungspunkt, der zu regeln wäre, innerhalb von zwei Wochen beantragt werden kann. Die Regeln der §§ 321 und 718 ZPO stehen aber auch in der Zivilprozessordnung nebeneinander; dass der Gesetzgeber, der die existentielle Bedeutung des Unterhaltsanspruchs für den Unterhaltsgläubiger betont, dessen Rechtspositionen gegenüber der des sonstigen ZPO-Gläubigers verkürzen wollte, ist nicht anzunehmen. Die Systematik der §§ 116, 120 FamFG sprechen daher nicht gegen eine Nachholung der Entscheidung nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG, sondern dafür.
3. Voraussetzung für die Entscheidung ist, dass die Beschwerde zulässig ist, denn andernfalls bestünde kein Bedarf mehr für eine Anordnung der sofortigen Wirksamkeit der Entscheidung. Die Beschwerde der Antragstellerin in der Hauptsache ist gemäß § 58 FamFG statthaft und auch im Übrigen zulässig, insbesondere form- und fristgerecht eingelegt und begründet worden (§§ 63 Abs. 1, 64, 117 Abs. 1 FamFG).
4. Auf die Erfolgsaussichten der Beschwerde kommt es für die Entscheidung nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG nicht an. Das Beschwerdegericht ersetzt lediglich die Entscheidung des Familiengerichts, das diese Anordnung auf der Grundlage seiner Rechtsauffassung hätte treffen müssen.
Nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG hat die Entscheidung unter Abwägung der beiderseitigen Interessenlage der Beteiligten zu erfolgen. Die Vorschrift betont die existentielle Bedeutung des Unterhalts für den Berechtigten. Eine Beschränkung der Anordnung kommt nach der Vorstellung des Gesetzgebers regelmäßig nur in Ausnahmefällen in Betracht, etwa wenn das Jugendamt aus übergegangenem Recht gegen den Pflichtigen vorgeht, weil es auf die laufenden Zahlungen nicht angewiesen ist.
Der Umstand, dass der gezahlte Unterhalt möglicherweise von der Unterhaltsberechtigten nicht zurückzuerlangen sein wird, ist für die Interessenabwägung in der Zwangsvollstreckung grundsätzlich nicht von Belang.
5. Die Anordnung erfolgt jedoch nur wegen des laufenden Unterhalts, weil der Unterhalt den laufenden Bedarf deckt. Das entspricht der Wertung des Gesetzgebers. Danach kann das Gericht von der Anordnung nach § 116 Abs. 3 Satz 3 FamFG abweichen, wenn es wie bei Unterhaltsrückständen der laufenden Sicherung der Existenz nicht bedarf. Für den rückwirkenden Unterhalt hält der Senat eine Anordnung nicht für angezeigt.
III. Der Praxistipp
Die vorliegende Entscheidung beschäftigt sich mit dem – nicht alltäglichen – Problem, dass das erstinstanzliche Gericht die Anordnung der sofortigen Wirksamkeit eines auf Zahlung von Unterhalt gerichteten Beschlusses „vergisst“.
Wie der Antragstellervertreter mit diesem Problem umgehen muss und es insbesondere lösen kann, zeigt die vorliegende Entscheidung auf.