1. Die Befreiung vom Barunterhalt nach § 1606 Abs. 3 S. 2 BGB erfordert, dass der betreuende Elternteil einen nennenswerten Teil der Betreuung selbst wahrnimmt, mithin eine nennenswerte Betreuungs- und Erziehungsleistung erbringt. Das schließt eine eigene Erwerbstätigkeit und die damit verbundene Versorgung des Kindes mit Hilfe Dritter nicht aus.
2. Der Schwerpunkt der Betreuung und Erziehung eines Jugendlichen liegt darin, dass der Elternteil als verantwortlicher Ansprechpartner im Alltag zur Verfügung steht, den persönlichen Kontakt pflegt und damit die soziale Bindung festigt, wobei er entsprechende Hilfeleistungen selbst durchführt oder unter Beibehaltung seiner Erziehungsverantwortung organisiert.
3. Demgegenüber gehört die hauswirtschaftliche Tätigkeit zwar ebenfalls notwendigerweise zur Versorgung eines Kindes, stellt jedoch nicht den Schwerpunkt der persönlichen Betreuung und Erziehung eines Jugendlichen dar.
OLG Koblenz, Beschl. v. 29.6.2022 – 13 UF 178/22
I. Der Fall
Die Beteiligten streiten um Kindesunterhalt.
Der Antragsteller und die Antragsgegnerin sind seit 2019 getrenntlebende Ehegatten. Aus der Ehe ist die gemeinsame Tochter hervorgegangen, die bis 05/2021 zunächst gemeinsam im Haushalt mit der Antragsgegnerin zusammenlebte. Der Antragsteller hatte sich zur Zahlung von Kindesunterhalt gemäß Jugendamtsurkunde vom 7.10.2020 verpflichtet. Nach einer Auseinandersetzung mit der Kindesmutter in 05/2021 wechselte die Tochter ihren Aufenthalt in das Haus der Großeltern väterlicherseits. Dort leben die Eltern und die Schwester des Kindesvaters. Wann und wie lange sich der Kindsvater dort aufhält und der Umfang seiner Betreuungsleistung ist zwischen den Beteiligten streitig. Der Kindesvater ist berufstätig und führt eine Beziehung, bei der er sich regelmäßig aufhält. Nach einem Aufenthalt bei der Kindesmutter in den Sommerferien 2021 ist die gemeinsame Tochter seit 08/2021 wieder ins Haus der Großeltern gewechselt.
Die Kindesmutter geht einer Teilzeitbeschäftigung in der Altenpflege nach. Die Ehegatten sind Miteigentümer einer Wohnung, der vormaligen Ehewohnung, welche die Antragsgegnerin zumindest bis 09/2021 bewohnt hat. Die Beteiligten sind zudem Miteigentümer eines Hausanwesens.
Das Amtsgericht hat mit dem angefochtenen Beschluss die Antragsgegnerin verpflichtet, dem Antragsteller Kindesunterhalt für die gemeinsame Tochter für die Zeit von 06/2021 bis einschließlich 09/2021 in Höhe von gesamt 1.248,50 EUR nebst Zinsen sowie ab 10/2021 100 % des Mindestunterhalts der jeweiligen Altersstufe abzüglich hälftigem Kindergeld zu zahlen und im Übrigen den Antrag abgewiesen. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass der Antragsteller als Prozessstandschaftler gemäß § 1629 Abs. 3 BGB aktivlegitimiert und die Antragsgegnerin zur Zahlung von Kindesunterhalt im tenorierten Umfang gemäß § 1603 BGB verpflichtet sei. Hingegen sei der Antragsteller nicht barunterhaltspflichtig. Er erfülle seine Unterhaltspflicht gegenüber dem Kind durch Pflege und Erziehung, was aufgrund seiner Erwerbstätigkeit mit Unterstützung seiner Eltern erfolge. Die Vorschrift des § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB erfordere keine persönliche Betreuung durch den Elternteil, insoweit schadeten Leistungen Dritter, die lediglich zur Unterstützung und Entlastung des betreuenden Teils erfolgten, nicht. Zudem seien die speziellen Wohnverhältnisse im Haus der Großeltern zu berücksichtigen. Im Übrigen lasse der vorübergehende, ferienbedingte Aufenthalt der gemeinsamen Tochter der Beteiligten bei der Mutter im Sommer die Unterhaltspflicht nicht entfallen. Die Antragsgegnerin sei auch leistungsfähig unter Berücksichtigung ihrer Einkünfte aus der Teilzeittätigkeit sowie – für die Zeit von 06/2021 bis 08/2021 – durch Zurechnung eines Wohnvorteils.
II. Die Entscheidung
Das OLG Koblenz hält die zulässige Beschwerde der Antragsgegnerin für unbegründet. Zur Begründung führt es aus:
Das Familiengericht hat die Antragsgegnerin zu Recht verpflichtet, ab 06/2021 Kindesunterhalt zu zahlen. Die Voraussetzungen für die Zahlung von 100 % des Mindestunterhalts gemäß § 1612a Abs. 1 BGB i.V.m. § 1603 BGB sind erfüllt. Auf die Feststellungen und Ausführungen des Amtsgerichts in den Gründen des angegriffenen Beschlusses wird zunächst zur Vermeidung von Wiederholungen Bezug genommen.
Das minderjährige Kind ist bedürftig und die Antragsgegnerin leistungsfähig. Dagegen wendet sich die Antragsgegnerin im Beschwerdeverfahren nicht. Die Antragsgegnerin wendet sich mit ihrer Beschwerde allein gegen die Feststellung des Amtsgerichts, dass der Antragsteller nicht zum Barunterhalt verpflichtet sei. Die Antragsgegnerin beruft sich darauf, dass der Antragsteller das gemeinsame minderjährige Kind im Hinblick auf § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB nicht betreue. Dem kann sich der Senat nicht anschließen.
Zwar haften Eltern als gleich nahe Verwandte grundsätzlich anteilig für den Unterhalt nach ihren Erwerbs- und Vermögensverhältnissen gemäß § 1606 Abs. 3 Satz 1 BGB. Jedoch erfüllt der Elternteil seine Verpflichtung, zum Unterhalt des Kindes beizutragen, in der Regel durch die Pflege und die Erziehung des Kindes, wenn er das minderjährige Kind betreut, § 1606 Abs. 3 Satz 2 BGB. Im Hinblick darauf bleibt es bei der alleinigen Barunterhaltsverpflichtung der Antragsgegnerin und der hälftigen Kindergeldanrechnung (§ 1612b Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 BGB). Denn der Kindesvater kommt seiner Unterhaltspflicht durch Betreuung und Pflege des Kindes im Sinne dieser Vorschrift nach. Der Betreuungsunterhalt wird auch dann als dem Barunterhalt gleichwertig angesehen, wenn der betreuende Elternteil erwerbstätig ist und sich deshalb der Versorgung des Kindes der Hilfe Dritter bedient. Es muss lediglich ein nennenswerter Teil der Betreuung selbst wahrgenommen werden. Die Befreiung von der Barunterhaltsverpflichtung entfällt nur bei völliger Fremdbetreuung.
Der Antragsteller erbringt eine nennenswerte Betreuungs- bzw. Erziehungsleistung gegenüber der Tochter.
Die Örtlichkeiten sprechen nicht dagegen. Der Antragsteller hat konkret vorgetragen, dass ihm im Hause seiner Eltern ein Zimmer mit der Größe von 16 qm zur Verfügung steht, in dem auch die Kindeseltern vorübergehend mit dem ersten gemeinsamen Kind bis zur Fertigstellung ihres Hauses gewohnt hatten. Dem ist die Antragsgegnerin nicht substantiiert entgegengetreten, hat sie doch lediglich die Geeignetheit dieses Zimmers zum Wohnen in Frage gestellt. Die weiteren Räumlichkeiten der Wohnung werden von den Großeltern genutzt und die weitere Wohnung von der Schwester des Antragstellers; dort befindet sich auch das Zimmer der gemeinsamen Tochter, welches altersgerecht eingerichtet ist. Unbestritten hat der Antragsteller weiter vorgetragen, dass er die Räume seiner Eltern mitnutze. Der Antragsteller hat darüber hinaus vorgetragen, dass er auch jeden Tag nach der Arbeit ins Haus der Eltern zurückkehre und dort zusammen mit der Tochter und der Familie zu Abend esse. Das hat die Antragsgegnerin nicht in ausreichendem Maße bestritten. Der Antragsteller hat des Weiteren vorgetragen, dass er das Kind zweimal in der Woche zu Hobbys fahre. Freitags gehe es nach der Schule zur Lebensgefährtin des Antragstellers, von wo er die Tochter dann zum Tanzen fahre. Diesen Vortrag hat die Antragsgegnerin nur insoweit bestritten, als unzutreffend sei, dass der Antragsteller das Kind zum Tanzen fahre, denn es verlasse den Tanzunterricht früher, um in der Regel mit dem Bus zum Tanzen zu fahren. Danach bestreitet die Antragsgegnerin bereits nicht, dass der Antragsteller für die Tochter jedenfalls einmal in der Woche Fahrdienste für ein Hobby leistet. Den gemeinsamen Aufenthalt im Haushalt der Lebensgefährtin des Antragstellers stellt die Antragsgegnerin zudem nicht in Frage. Ihr Bestreiten des Fahrdienstes des Kindesvaters zum Tanzunterricht stellt sich im Übrigen als unzureichend dar. Denn der Vortrag, dass der Vater das Kind nicht zum Tanzen fahre, wird aus einem Rückschluss der Gestalt gezogen, dass es den Tanzunterricht früher verlasse. Offenbar soll damit zum Ausdruck gebracht werden, dass dies zum Erreichen des Busses notwendig sei. Das betrifft notwendigerweise nur den Rückweg. Einen Fahrdienst für den Rückweg hat der Antragsteller nicht behauptet. Der Fahrdienst zum Tanzen ist damit nur unzureichend bestritten.
Unter Würdigung dieser Umstände stellt der Senat eine nennenswerte Betreuungsleistung des Kindesvaters die minderjährige Tochter fest. Die Betreuungsleistung für eine 15- bzw. 16-Jährige gestaltet sich anders als für jüngere Kinder. Dass die hauswirtschaftlichen Leistungen aufgrund der Berufstätigkeit des Antragstellers von seinen Eltern bzw. der Schwester des Antragstellers übernommen werden – eine solche Versorgung wie das Wäschewaschen oder Zimmerreinigen behauptet der Antragsteller selbst nicht – steht dem nicht entgegen. Die hauswirtschaftliche Tätigkeit gehört zwar notwendigerweise zur Versorgung eines Kindes, stellt jedoch nicht den Schwerpunkt in der persönlichen Beziehung zu einem Kind dar. Diese wird vielfach zur Unterstützung von berufstätigen Eltern im Rahmen des Kindergartenaufenthaltes oder z.B. durch Kindermädchen und Haushaltshilfen ersetzt, ohne dass die Betreuungsleistung der Eltern im Übrigen in Frage steht. Der Schwerpunkt der Betreuung – und Erziehung eines Jugendlichen liegt darin, dass der Elternteil als verantwortlicher Ansprechpartner im Alltag zur Verfügung steht, den persönlichen Kontakt pflegt und damit die soziale Bindung festigt, wobei er entsprechende Hilfeleistungen organisiert oder selbst durchführt. Die persönliche, soziale Bindung durch den Antragsteller, in dessen Rahmen er seiner Erziehungsverantwortung nachkommt, ist vorliegend gewährleistet. Der Kindesvater steht der gemeinsamen Tochter täglich zur Verfügung. Beide nehmen täglich das Abendessen gemeinsam mit der väterlichen Familie ein. Des Weiteren unterstützt er durch Fahrdienste deren Hobbys, indem er sie persönlich zu den entsprechenden Orten fährt. Zudem verbringen beide weitere Zeit miteinander, nämlich im Haushalt der väterlichen Lebensgefährtin an Wochenenden, was der Antragsteller unbestritten vorgetragen hat. Auch die einer Betreuungs- und Erziehungsleistung immanente Verantwortung übernimmt der Kindesvater. Er überlässt die Entscheidungen im sozialen Bereich nicht seinen Eltern oder seiner Schwester, die tatsächlich mehr Zeit vor Ort mit dem Kind verbringen. Solches schließt der Senat aus dem unbestrittenen Vorbringen der Antragsgegnerin, dass der Antragsteller seine Familie angewiesen habe, dass bei einem Besuch des Freundes der Tochter im Hause der Großeltern eine dritte Person anwesend sein müsse, z.B. sein Neffe. Damit hat der Antragsteller ausreichend zum Ausdruck gebracht, dass er seine Erziehungsverantwortung selbst wahrnimmt und sicherstellt. Von einem vollständigen Fremdunterbringen unter Abgabe der Erziehungsverantwortung kann unter Berücksichtigung all dessen nicht die Rede sein.