1. Zu dem Anspruch auf Ausbildungsunterhalt eines minderjährigen Kindes, das nach Erreichen des Hauptschulabschlusses die mittlere Reife an einer Realschule anstrebt, jedoch die hierfür erforderlichen Ausbildungsinhalte in Form von Online-Kursen und einem Selbststudium nicht mit der gebotenen Zielstrebigkeit und Ernsthaftigkeit aufgenommen hat.
2. Das von einem in Ausbildung stehenden Kind angestrebte höherwertige Bildungsziel ist grundsätzlich anzuerkennen. Der Anspruch auf einen entsprechenden Ausbildungsunterhalt besteht aber dann nicht, wenn die intellektuellen Fähigkeiten des Kindes sowie die Bereitschaft zu einem besonderen zeitlichen Einsatz nicht in hinreichendem Umfang gegeben sind.
3. Soweit die Lerninhalte auf der Grundlage einer online-Vermittlung erlangt werden müssen, sind von dem Auszubildenden erhöhte Anforderungen an Organisation und Lerndisziplin zu stellen, ferner die Fähigkeit, sich die Lerninhalte eigenverantwortlich zu erarbeiten.
4. Auch minderjährige Kinder trifft eine Erwerbsobliegenheit, soweit eine gesetzliche Schulpflicht nicht mehr besteht.
AG Bruchsal – Familiengericht –, Beschl. v. 28.6.2022 – 5 F 100/22
I. Der Fall
Der Antragsteller ist Vater der Antragsgegnerin, welche im Haushalt ihrer Mutter lebt.
Mit Anerkenntnisbeschluss wurde der Antragssteller zur Zahlung des Mindestunterhalts verpflichtet. Dies in Abänderung eines bereits vorher bestehenden Unterhaltstitels in Form einer Jugendamtsurkunde. Der Antragssteller ist dieser Verpflichtung bis einschließlich 31.12.2021 nachgekommen. Im Weiteren forderte er die Antragsgegnerseite außergerichtlich mehrfach zur Auskunft über ihren schulischen Werdegang, ihrer Entwicklung und Zukunftspläne (Ausbildungsbeginn) auf. Auf das Schreiben, welches per Einschreiben übersandt wurde, erfolgte keine Reaktion der Antragsgegnerin.
Die Antragsgegnerin hat bis 07/2020 eine Förderschule mit Förderschwerpunkt Lernen besucht und das dortige Bildungsziel erreicht. Anschließend hat sie bis 07/2021 besucht und mit der Ausbildungsvorbereitung dual abgeschlossen, dem Erwerb des Hauptschulabschlusses entspricht. Während des Schuljahres hatte die Antragsgegnerin keinen Englischunterricht. Ab dem 1.11.2021 war die Antragsgegnerin für den Onlinekurs des Lernzentrums zur Vorbereitung auf den Realschulabschluss eingeschrieben. Eine Zulassung zur Realschulabschlussprüfung für Schulfremde 2022 (Schulfremdenprüfung) durch das staatliche Schulamt liegt vor. Im Rahmen der Prüfung hätte von der Antragsgegnerin im Fach Deutsch eine Lektürebesprechung durchgeführt und im Fach Englisch eine Übersetzung angefertigt werden müssen.
Die Antragsgegnerin hat an den Abschlussprüfungen, welche am 17.5.2022 mit dem Fach Deutsch begonnen haben, nicht teilgenommen. Für die Nachprüfungen, welche am 21.6.2022 begonnen haben, hat sie sich nicht angemeldet. Sie möchte sich 05/2023 nochmals zur Prüfung anmelden, was sie bisher aber noch nicht unternommen hat.
II. Die Entscheidung
Nach Auffassung des Amtsgerichtes Bruchsal – Familiengericht – ist der Antrag auf Abänderung ist zulässig und begründet. Die Antragsgegnerin hat ab 01/2022 keinen Unterhaltsanspruch gegen den Antragsteller. Sie hat ihre Bedürftigkeit, für welche sie die Beweislast trägt, nicht nachgewiesen.
Im Einzelnen gilt folgendes:
a) Bedarf/Bedürftigkeit
Gemäß § 1602 Abs. 1 BGB ist unterhaltsberechtigt nur, wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Die Antragsgegnerin ist 16 Jahre alt und hat einen Bildungsabschluss/Hauptschulabschluss erworben. Vor diesem Hintergrund ist sie nicht mehr schulpflichtig. Aus § 1610 Abs. 2 BGB folgt der Anspruch eines Kindes auf Finanzierung einer angemessenen, seiner Begabung, Neigung und seinem Leistungswillen entsprechenden Vorbildung. Geschuldet wird die den Eltern wirtschaftlich zumutbare Finanzierung einer optimalen begabungsbezogenen Berufsausbildung ihres Kindes, die dessen Neigungen gerecht wird, ohne dass sämtliche Neigungen und Wünsche berücksichtigt werden müssen, insbesondere nicht solche, die sich nur als flüchtig oder vorübergehend erweisen oder mit den Anlagen und Fähigkeiten des Kindes oder den wirtschaftlichen Verhältnissen der Eltern nicht zu vereinbaren sind. „Angemessen“ ist damit eine Ausbildung, die der Begabung und den Fähigkeiten, dem Leistungswillen und den beachtenswerten, nicht nur vorübergehenden Neigungen des einzelnen Kindes entspricht.
Nach dem Gegenseitigkeitsprinzip steht der Verpflichtung der Eltern, dem Kind eine angemessene Ausbildung zu ermöglichen (§ 1610 Abs. 2 BGB), die Ausbildungsobliegenheit des Kindes gegenüber. Die in der Ausbildung befindlichen Kinder haben dabei die Verpflichtung, die Ausbildung ernsthaft zu betreiben und zügig zu durchlaufen. Auch muss die Ausbildung zielgerichtet und mit dem erforderlichen Engagement betrieben werden, ferner geeignet sein, dem Unterhaltsberechtigten in Zukunft die eigenständige Finanzierung seines Lebensunterhaltes zu ermöglichen. Die Obliegenheit des Kindes umfasst auch, den schulischen Leistungsanforderungen gerecht werden zu können.
Zwar ist der Wunsch, einen höherwertigen Bildungsabschluss erwerben zu wollen, um dadurch bessere berufliche Möglichkeiten zu erhalten nachvollziehbar, doch kann dies nur insoweit gelten, als dass der anvisierte Abschluss auch erreichbar ist. Von der Antragsgegnerin wäre demnach dezidiert vorzutragen unter Beweis zu stellen, inwiefern sie – unter Berücksichtigung ihrer Schwerbehinderung und ihres offensichtlichen Förderbedarfs im Bereich Lernen – in der Lage ist, die mittlere Reifeprüfung zu erlangen. Dies auch unter dem Gesichtspunkt, dass die Antragsgegnerin den Onlinekurs nicht zum 1.9.2021, sondern erst zum 1.11.2021 begann. Weiter wäre im Hinblick auf den schlüssigen Vortrag des Antragstellers darzulegen gewesen, dass sie den Prüfungsanforderungen der Schulfremdenprüfung gerecht werden kann. Auf die weitere Frage, inwieweit die Antragsgegnerin neben der Vorbereitung auf die Realabschlussprüfungen noch einer Erwerbstätigkeit hätte nachkommen müssen, kam es daher nicht mehr an.
b) Schulabschluss
Nach der Überzeugung des erkennenden Gerichts entspricht der Erwerb des Realschulabschlusses nicht den Fähigkeiten der Antragsgegnerin. Zunächst hat die Antragsgegnerin eine Förderschule mit Schwerpunkt Lernen besucht, anschließend eine Ausbildungsvorbereitung begonnen und abgeschlossen. Schließlich ist sie verspätet in den Online-Kurs des Lernzentrums zum 1.11.2022 zur Vorbereitung auf den Realschulabschluss eingestiegen. Im Anhörungstermin hat sie erklärt, dass sie während der Vorbereitungszeit keine Klausuren zur Vorbereitung geschrieben habe, dies sei im Kurs nicht vorgesehen gewesen. Weiter habe es auch keine Kontrollen der bearbeiteten Lernblätter gegeben. Online-Sitzungen hätten für jeweils 1,5 h an drei Tagen (sonntags, montags und mittwochs) stattgefunden. Man sei nicht verpflichtet gewesen, sich während der Online-Sitzungen aktiv zu beteiligen, die Anwesenheit sei nur zu Beginn, beim Einloggen überprüft worden.
Aus diesen Ausführungen wird deutlich, was im Besonderen die Corona-Pandemie in Bezug auf die Online-Vermittlung von Lernstoff eindrücklich aufgezeigt hat: Das von der Antragsgegnerin gewählte Online-Format stellt erhöhte Anforderungen nicht nur an die Organisationsstruktur und Disziplin des Lernenden, sondern auch an seine Kompetenz des Selbstlernens, des eigenverantwortlichen Aneignens von Lerninhalten und des eigenverantwortlichen Trainings, das Gelernte anzuwenden. Die Antragsgegnerin war – so ihr Bericht über den Ablauf des Vorbereitungskurses – gänzlich auf sich allein gestellt und hatte keinerlei Rückmeldungen über die bearbeiteten Lernblätter, noch hatte sie Gelegenheit durch das Schreiben von Klausuren, den Lernstoff zu reproduzieren, zu festigen und ganz allgemein die Klausursituation, sowie die Prüfungssituation im Besonderen, zu trainieren. Weiter gilt als zugestanden, da nicht bestritten, dass sie in ihrem letzten Schuljahr vor Beginn des Online-Kurses keinen Englischunterricht gehabt hatte, in der Realschulprüfung aber eine Übersetzung hätte anfertigen müssen. Ebenso gilt als zugestanden, dass sie im Fach Deutsch die Pflichtlektüre „Kleider machen Leute“ hätte besprechen müssen, eine solche Buchbearbeitung bisher aber noch nicht unternommen hat. Auf Frage des Verfahrensbevollmächtigten des Antragstellers hierzu entgegnete die Antragsgegnerin lediglich, dass sie schon Bücher gelesen habe. Im Ergebnis hat die Antragsgegnerin die Prüfungen auch nicht angetreten. Dies – so ihrem Vortrag zu Folge – weil es schien, dass die Oma – die in einem Pflegeheim versorgt und betreut wird – im Sterben liegen könnte. Ca. einen Tag vor den Prüfungen sei für die Antragsgegnerin deshalb absehbar gewesen, dass sie die Prüfungen nicht antreten würde. Das Gericht erachtet diese Einlassung als nicht plausibel. Aufgrund der Gesamtumstände ist nach Auffassung des Gerichts davon auszugehen, dass die Antragsgegnerin sich der Prüfung vielmehr subjektiv nicht gewachsen gefühlt hat. Für die Nachprüfung hat sie sich nicht gemeldet, obwohl der Zustand der Großmutter mittlerweile als stabil zu bezeichnen ist.
Das Gericht ist deshalb zu der Überzeugung gelangt, dass die Vorbereitung auf den Realschulabschluss mittels Online-Kurs, sowie die daran anschließende Realschulabschlussprüfung nicht den Anlagen und Fähigkeiten der Antragsgegnerin entspricht und auch von Beginn an nicht entsprochen hat.
c) Erwerbsobliegenheit
Der Anspruch des Kindes auf Unterhalt ist vom Gegenseitigkeitsprinzip geprägt. D.h. auch Kinder müssen die notwendigen und ihnen persönlich zuzumutenden Schritte unternehmen, um im Laufe der Jahre wirtschaftlich auf eigene Beine zu kommen. Andernfalls sind ihnen ihrem Alter entsprechende erzielbare hypothetische Einkünfte anzurechnen. Die neuere Rechtsprechung geht deshalb überwiegend davon aus, dass minderjährige Kinder, die nicht mehr den Einschränkungen des JArbSchG und der vollzeitigen Schulpflicht unterliegen, von einer Erwerbspflicht nicht entbunden sind. Sind beim minderjährigen Kind fiktive Einkünfte anzurechnen, ist zu beachten, dass die Anrechnung eines solchen fiktiven Einkommens dem barunterhaltspflichtigen Elternteil wegen der Gleichwertigkeit von Bar- und Betreuungsunterhalt nur zur Hälfte zugutekommt, so dass die Anrechnung nicht zu einem völligen Wegfall des Unterhaltsanspruches führen muss. Auch ein minderjähriges Kind ist zur Erwerbstätigkeit verpflichtet, wenn es nicht mehr schulpflichtig ist und sich nicht ausbilden lässt. Ein Beschäftigungsverbot gem. §§ 2 Abs. 3, 5 Abs. 2, 7 JugArbSchG ist vorliegend nicht gegeben, da die Antragsgegnerin nicht mehr schulpflichtig ist.
Die Antragsgegnerin wäre deshalb mit Ende des Schuljahres 2020/2021 und ihrem Schulabschluss verpflichtet gewesen, sich um einen Ausbildungsplatz zum 1.9.2021 zu bemühen. Nachdem sie dies nicht getan hat und auch bisher nicht getan hat, wäre sie verpflichtet gewesen, spätestens ab 1.9.2021 einer Erwerbstätigkeit nachzugehen. Das Gericht geht auch in Anbetracht der Schwerbehinderteneigenschaft und unter Berücksichtigung des JugArbSchG, welches eine Arbeitszeit von wöchentlich 40 h vorsieht (vgl. § 8 JugArbSchG) davon aus, dass die Antragsgegnerin fiktiv einen monatlichen Durchschnittslohn i.H.v. mindestens 900 EUR monatlich (160 h x 6 EUR netto) erzielen kann. Die Darlegungs- und Beweislast hierfür trägt die Antragsgegnerin. Unter Berücksichtigung der anteiligen Anrechnung auf die Barunterhaltsverpflichtung des Antragstellers verbleibt damit kein Unterhaltsanspruch mehr.